Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den Möglichkeiten der bildnerischen Raumdarstellung. Einfach gesagt, sind darunter alle Verfahren zur dreidimensionalen Gestaltung auf zweidimensionalen Flächen zu verstehen. Der Begriff Perspektivenlehre beschränkt sich somit in diesem Beitrag nicht nur auf die Zentralperspektive sondern auf eine grösser gefasste Raumtheorie, zugleich es hier nur um eine kleine Typologie geht. Damit bildet die Perspektivenlehre unter anderem mit der Formen-, Farben- und Kompositionslehre die Grundlage der formalen Gestaltungslehre in Gestaltung und Kunst. Zuerst wird thematisiert, was Perspektive bzw. Perspektivenlehre eigentlich ist, bevor über die Raumwahrnehmung grundsätzlich gesprochen wird. Anschliessend werden einige bekannte Verfahren genannt und in die drei übergeordneten Bereiche der objektiven (1), wirklichkeitsnahen (2) und polyvalenten (3) Bildräume verortet. Mit dieser kontrovers zu diskutierenden Übersicht lässt sich ein erster Überblick aller Raumdarstellungssystem gewinnen sowie deren Wirkung und Funktionen reflektieren.
Über die Perspektivenlehre
Bei dem Thema Perspektive denken viele direkt an die linearperspektivische Konstruktion mit Fluchtpunkten - insbesondere an die Zentralperspektive. Dies zeigt sich etwa auch bei der Bildsuche im Web zum Stichwort Perspektive. Der Begriff Perspektive ist jedoch in seiner Wortgeschichte weit offener angelegt. Mit Perspektive ist das Hindurchschauen und Hineinsehen gemeint - nämlich das Hindurchschauen durch eine Fläche und Hineinschauen in einen scheinbaren Raum (lat. perspicere bedeutet hineinsehen, hindurchschauen). In diesem Sinn existieren weit mehr Darstellungssysteme und Prinzipien zur Erzeugung von Raum als die verschiedenen Typen der Fluchtpunktperspektive. Die bald 600-jährige Fluchtpunktperspektive hat zwar bis zum Impressionismus fast ein halbes Jahrtausend paradigmatisch dominiert. Die breiter gefasste Perspektive ist aber mehrere Zehntausend Jahre alt - genau genommen so alt, wie die Bilder selbst - und wirkt bis heute.
In der Kulturgeschichte unserer Bildgestaltung wurde die Perspektive zunehmend bewusster wahrgenommen und bald selbst als Kulturtechnik von Generation zu Generation vermittelt. Verschiedene Epochen entwickelten Vorlieben in der räumlichen Darstellung und damit ihre eigene Perspektivenlehre mit ihren eigenen zeitspezifischen Eigenheiten und kulturellen Parallelen. Heute kann aus einem breiten Set überlieferter Darstellungsverfahren zur Bildraumgestaltung geschöpft werden. Wir verfügen über lineare und chromatische, wirklichkeitsnahe und ausdrucksstarke, mono- und polyvalente, einfache und komplexe perspektivische Verfahren.
Perspektivenwirkung durch Staffelung und unterschiedlicher Platzierung - Chauvet-Höhle, etwa 30'000 vor Chr. | Zeichenhilfe zur Unterstützung der Beobachterperspektive - Der Zeichner und seine Laute, 1525, Duerer | Diese als falsche proklamierte Perspektive wurde knapp zwei Jahrhunderte später zu einem Leitprinzip im Surrealismus -The Importance of Knowing Perspective, 1753, Hogarth |
In der Regel wird heute im Schulunterricht ein passendes Verfahren vermittelt - je nach Entwicklungsstand der Lernenden. Meist wird im Verlauf der Schulzeit von einfachen Prinzipien zu komplexen Systemen aufgebaut. Dies ergibt den Eindruck, als ob komplexere Systeme besser und wertvoller wären, was so nicht stimmt. In diesem Fall ist die Perspektivenlehre zum pädagogischen Selbstzweck deformiert. Und nicht selten wird sogar nach den Vorlieben (und dem Können) der Lehrperson gearbeitet oder ganz und gar eine willkürliche Perspektivenlehre vermittelt. So kommen Verfahren zum Einsatz, ohne den pädagogischen oder gestalterischen Sinn und Zweck zu erfassen. Exemplarisch sieht man dies, wenn unreflektiert die Zentralperspektive unterrichtet wird, d.h. ohne zu verstehen, wieso dies eigentlich gemacht wird. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, ist es unabdingbar, einen Überblick und eine Ordnung über die perspektivischen Verfahren und deren Darstellungsfunktionen zu gewinnen - wenn auch nur theoretisch oder mit Bildbetrachtung. Um die Verfahren ganz zu verstehen, kommt man danach jedoch nicht drum herum, jedes einzelne Verfahren praxisnah mit spezifisch mit Übungen und Gestaltungsprojekten auszukundschaften.
Wahrnehmung von Raum und Bildraum
Die wirkliche Umgebung um uns herum können wir mit unseren Sinnen als dreidimensionalen Raum wahrnehmen. Hierzu orientieren wir uns nicht nur visuell, sondern auch taktil mit der Haut oder der Empfindung der Muskeln und Gelenke und sogar auch etwa akustisch oder thermisch. Insbesondere zur Orientierung im weiten Raum über die Körpersphäre hinaus nutzen wir primär das visuelle System, das über 80% aller Sinneseindrücke liefert. Um uns im Alltag zu bewegen, erstellen wir damit - vereinfacht gesagt - parallel im Kopf einen dreidimensionalen Raum, den wir fortlaufend mit den Informationen der Sinnesorgane abgleichen. Diese Repräsentation von Raum und Zeit im Kopf entspricht einem Simulakrum, also einem ähnlichen Ding zur Aussenwelt. Dieses ähnliche Ding repräsentiert nicht nur die wirkliche Umgebung, sie lässt sich mittels Vorstellungskraft auch losgelöst verändern. Wir können uns also einen von der Umwelt losgelösten, dreidimensionalen Raum vorstellen, um uns etwa im Strassenverkehr vorstellen zu können, was passieren würde, wenn wir die Strasse im falschen Moment überqueren, oder etwa im Sport antizipieren zu können, wann die gegnerische Mannschaft wo stehen könnte. Wir können uns aber sogar einen Raum Vorstellen, der nicht existiert, indem wir in Phantasien schwelgen und uns gedanklich eine eigene Welt imaginieren. Diese mentalen Räume können physikalischen Gesetzen wie Schwerkraft, Masse, Dimension oder Bewegung gehorchen aber auch trotzen.
Die wirklichkeitsnahe Umgebung können wir nicht nur als Raum wahrnehmen und uns als eigenständiges Simulakrum vorstellen, wir können diese auch mit unseren Kulturtechniken virtuos bildnerisch darstellen. Und wie in unserer Vorstellung können wir auch in der bildnerischen Darstellung den physikalischen Gesetze trotzen. Dennoch gilt die physikalische Welt, in der wir unseren Alltag bewältigen, stets als Referenz - einerseits für unsere Vorstellungsräume als auch für unsere bildnerischen Darstellungsräume. Die physikalischen Gesetze werden in der Produktion und Rezeption unserer Bilder stets als Referenz beigezogen. Sogar in der abstrakten Malerei bildet die wirkliche Umgebung die bestimmende Referenz, in welcher der Erfahrungswert der Schwerkraft, Masse, Dimension oder Bewegung einbezogen wird - sogar wenn die Künstler nach referenzfreien und absoluten Bildräumen suchen. Aus diesem Grund ist es nachvollziehbar, dass die Perspektivenlehre nicht selten über die wirklichkeitsnahe Raumdarstellung wie die Fluchtpunktperspektive führt, was aber nicht unbedingt sein muss.
In manchen Gestaltungsschulen und selbstverständlich in der Arbeit mit Kindern wird bewusst auf eine komplexe Perspektivenlehre wie der Fluchtpunktperspektive verzichtet, um direkter, unbefangener und stärker auf die Grundlagen des Bildraumes und die Bildkräfte eingehen zu können - eben auf Schwerkraft, Masse, Dimension, Bewegung und dergleichen, die auch in jedem noch so einfachen Bild ihre Gültigkeit besitzen. Damit bewegen wir uns zugleich in der Farben-, Formen- und Kompositionslehre. Als Referenz bleibt dennoch die wirkliche Welt und nicht zuletzt das Simulakrum in unserem Kopf. Das bezaubernde an unserer Kultur- und Kunstgeschichte bleibt jedoch, dass wir seit Zehntausenden von Jahren parallel zur wirklichen Welt imstande sind, auf einer zweidimensionalen Fläche räumliche Welten zu erschaffen, die voll funktionsfähig sind. Mit diesen Bildern stimulieren wir mehr als ein Simulakrum. Bilder haben nebst dem Bezug zur Wirklichkeit und zu den Vorstellungsräumen einen autonomen Wert, womit wir kommunizieren und unser Kulturgut pflegen, die wir damit von Generation zu Generation weitergeben.
Figur-Grund-Beziehung
Als Voraussetzung für die Errungenschaft mit Bildern Räume zu erschaffen, gilt das Phänomen, dass wir Menschen nicht nur im dreidimensionalen Raum, sondern auch auf einer Fläche eine Figur-Grund-Beziehung erzeugen. Die Figur-Grund-Beziehung ist ein wichtiges Element der Gestalttheorie in der Wahrnehmungspsychologie, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll. Kurz gesagt, versuchen unsere Wahrnehmung und das räumliche Vorstellungsvermögen bei jedem Reiz eine räumliche Interpretation zu erzeugen, was mit unserem Imaginationsdrang zu tun hat.
Link zu "I Tagli" | |||
Vase oder zwei Gesichter? Die "rubinsche Vase" visualisiert den Wechsel von Figur und Grund |
Schwarzes Quadrat, 1915/ hier 1929, Malewitsch |
Farbengleichheit in Blau. Grafik nach: Yves Klein: Blue Monochrome, 1961. |
I Tagli, ab 1958, Fontana |
Diese ist etwa bei Malewitschs schwarzem Quadrat gut nachvollziehbar. In seinem Werk kann die schwarze Fläche als eine Vertiefung in der Bildfläche wahrgenommen werden. Sein schwarzes Quadrat kann etwa so gelesen werden, wie der Blick von einem hellen Raum durch ein offenes Fenster in die schwarze Nacht hinaus. Viel eher wird Malewitschs Werk jedoch nur als schwarze Form auf einer weissen Bildfläche wahrgenommen, ohne etwas Konkretes darzustellen zu wollen, was auch eher Malewitschs Intension entspricht. Das Bild ist so gedacht, um lediglich als schwarzes Quadrat primär ohne weitere Bedeutung betrachtet zu werden. Gerade, dass es kein Gegenstand ist, sondern eine gegenstandslose Form auf einer Fläche ohne jegliche gegenständliche Bedeutung, steht im Fokus von Malewitschs Werk, was später als absolute Malerei bezeichnet werden soll. Wie auch immer, in beiden Lesarten kann in der Rezeption eine dreidimensionale Räumlichkeit erzeugt werden.
Unsere Imagination braucht nur einen kleinen Stups, um das Simulakrum im Kopf zu aktivieren. Yves Klein erschuf mit seinen grossen, blauen Monochromen - d.h. einfarbigen Bildern - sogar ohne Quadrat, Rahmung oder anderen erkennbaren Formen im Bild Räume, unendliche Räume. Tatsächlich reicht eine einfarbige oder auch leere Bildfläche aus, um Raum zu erzeugen. In diesem Fall gilt der Rahmen oder die Wand, auf dem das Bild hängt, als Grund und die Bildfläche als unendliche Figur bzw. bei Yves Klein als unendlicher Raum, in dem man hineinschaft (perspicere).
Lucio Fontana hingegen hat in seinen Bildern die einfarbige bzw. leere Leinwand mit Schnitten versehen, um unter anderem klar zu machen, dass ein Bild ein unbegrenztes Kontinuum darstellt, aus dem wir schöpfen können. Für das Simulakrum im Kopf benötigen wir lediglich Imagination, von der wir Menschen genug haben, die aber gelernt werden muss. Die nachführend aufgezählten Bildraumverfahren loten die Möglichkeit zur räumlichen Darstellung im Bild nicht so weit aus wie die künstlerische Forschung von Malewitsch, Klein und Fontana, sondern entsprechen breit akzeptierten Bildräumen und etablierten Kulturtechniken von heute.
1. Objektive Bildräume (Diegesis)
Objektive Bildräume erfassen einen Raum möglichst übersichtlich, ohne einen all zu subjektiven Blick einzunehmen (Diegesis = Beschreibung). Diese Darstellung wird etwa von Ingenieuren, Architekten oder Produktdesignern zur gemeinsamen Entwicklung und Kommunikation genutzt, wie zur Konstruktion von Brücken, Gebäuden und Gebäudeteilen, Geräten, technischen Produkten etc. Deshalb werden mit diesem Verfahren auch gerne technische Anleitungen gestaltet. Die meisten kennen diese Darstellungen auch von Anleitungen für Konsumenten, um etwa Möbel oder Spielzeuge zusammenzubauen. Theoretisch entspricht diese Darstellung einer unmöglichen Sicht von einem unendlich weit entfernten Standpunkt mit einem unendlich starken Zoom auf das Motiv. Folgende standardisierten Darstellungen stammen aus der Axonometrie und werden als Parallelprojektion auch in die Freihandzeichnung adaptiert. Die Parallelprojektionen erfassen mit Geraden und Kurven insbesondere geometrische Objekte, jedoch können davon auch im aditiven und subtraktiven Konstruktionsverfahren organische Körper abgeleitet werden. Sie können mit Schraffuren weiter auch als tonale Darstellungen umgesetzt werden. Der Unterbau bildet jedoch immer die Parallelprojektion und wird mit einem linearen System konstruiert.
- Zu den Details: Parallelprojektion kurz und knapp
2. Wirklichkeitsnahe Bildräume (Mimesis)
Wirklichkeitsnahe Bildräume zeigen einen Bildraum, indem die Perspektive einen subjektiven Standort im Raum einnimmt. Diese Darstellungen wirken wirklichkeitsnahe, d.h. sie wirken "echt". Sie ahmen eine subjektive Wahrnehmung nach und versuchen diese festzuhalten (Mimesis = Nachahmung). In einer wirklichkeitsnahen Darstellung sind wir im Geschehen drin, wenn auch etwas näher oder etwas weiter davon entfernt. Diese Darstellung wird insbesondere zur Visualisierung einer wirklichen Raumsituation genutzt, etwa von Architekten, die ihr geplantes Endprodukt prospektiv für Aussenstehende wirklichkeitsnahe visualisieren wollen, oder für Illustratoren, die sich mit ihren Bildern in eine wirklichkeitsnahe Situation einfühlen wollen. Auch ein Storyboardzeichner nutzt diese Darstellung, um möglichst nahe an die geplante Aufnahme einer Film- oder Fotokamera heranzukommen. Diese Darstellung ist lebensnahe und entspricht am ehesten unserer Wahrnehmung. Einige Verfahren, wie die Fluchtpunktperspektive, konzentrieren sich auf die Geometrie bzw. die Form, andere auf die Farbwertigkeit wie der Erscheinung auf Distanz oder von Gegenständen im Licht. Es gibt aber auch einfache Prinzipien oder Verfahren, die es erlauben, mit wenig Theorie und Aufwand wirklichkeitsnahe Bildräume entstehen zu lassen. Da die wirkliche Umgebung als Referenz gilt, existiert nebst den planerischen, konstruktiven Darstellungen auch das Verfahren der Beobachterperspektive, in welchem die Umgebung ohne Konstruktionssystem nur mittels Wahrnehmung und Beobachtungshilfen (Dürerscheibe etc.) oder viel Übung auf die Bildfläche als wirklichkeitsnaher Bildraum übertragen werden kann. Voraussetzung hierfür ist, dass dieser wirklichkeitsnahe Raum exisitiert und in Echtzeit betrachtet werden kann oder zumindest die Betrachtung als Erfahrungswert verwendet werden kann, was dann als Erfahrungsperspektive bezeichnet wird.
- Zu den Details: Perspektivische Merkmale
- Zu den Details: Anordnung am Horizont
- Zu den Details: Fluchtpunktperspektive kurz und knapp
3. Polyvalente Bildräume
Die polyvalenten Bildräume brechen mit den eindeutigen Darstellungensformen. Diese können aber dennoch objektiven oder wirklichkeitsnahe sein. Ein besonderes Augenmerk gilt jedoch den ausdrucksstarken Bildräumen. Diese nutzen die Modifikation der Wirklichkeit zur Verstärkung des Ausdrucks. Polyvalente Darstellungen können etwa bei objektiven Bildräumen über die monovalente Erscheinung hinaus zusätzliche Informationen vermitteln. Sie können aber auch mit der Schaulust spielen, indem diese etwa wirklichkeitsnahe Bildräume brechen, irritieren und den Rezipienten zur Reflexion herausfordern. Es gibt eine Vielzahl polyvaltenter Bildraumtypen mit eingängigen oder paradoxen Darstellungsformen, wie die Bedeutungsperspektive, Explosionsdarstellungen, Raumverzerrungen (z.B. Print Gallery von Escher oder in der Kartographie), Simultanperspektiven, Anamorphosen, Vexierbilder, Kippbilder, Bilder mit einer Drôle de Perspective, Schwerkrafttäuschung (z.B. Relativity von Escher) und so weiter - sowie einfach nur ausdrucksstarke und abstrakte Bildräume. Wie es auch verschiedene Typen und Formen polyvalenter Bildräumge gibt, kommen diese in unterschiedlichsten Bereichen zum Einsatz - etwa in Kunst, Pädagogik, Wissenschaft oder Gewerbe; zur Entwicklung, zur Kommunikation, zur Illustration; sachlich, emotional, sinnlich; als leitendes Medium oder ergänzende Darstellung jeglicher Art über alle Bereiche hinaus.