Dieser Auftrag befasst sich mit dem Medium Trickfilm. In Anlehung an die Biennale von Venedig 2013 mit dem Thema "der enzyklopädische Palast" soll pro SchülerIn eine Trickfilm-Einblendung gezeichnet werden. Diese Einblendungen präsentieren "enzyklopädische Gegenstände" wie "Das Licht", "Der Himmel", "Der Farn", "Der Fixstern", "Die Prokaryonten", "Die Schlange"  oder "der Stuhl", die dann im Spiel mit dem radikalen Konstruktivismus auf eigentümliche Weise neu erklärt werden sollen. In der Klasse entsteht somit ein autopoietischer Film mit flüchtigen, vielleicht auf den ersten Blick absurden und dennoch überzeugenden Inhalten: ein "enzyklopädischer Palast".

 

Ziele

  • Einführung in das Medium Zeichentrickfilm/ Animation
  • Auseinandersetzung mit der "Welt", der "Wirklichkeit"  und der "Vorstellung" (mit den Stichworten, Wissensmonopol, Enzyklopädie, Philosopie, Erkenntnistheorie, radikaler Konstruktivismus)
 
Emile Cohl, Fantasmorgie 1908 (Quelle: youtube)  

 

Vorkenntnisse/ Vorübungen

  • Einblick in die Geschichte und Technik der Animation mit Vorübungen (analoge Einzelbild-Technicken wie z.B. der klassische Zeichentrickfilm, Mal-, Collage-, Kratz- oder Scherenschnittanimation sowie analoge Stop Motion wie z.B. Puppen-, Knetfiguren-, Lege-, Brickanimation oder Pixilation sowie auch 2D- und 3D-Computeranimationen sowie deren Mischtechniken)
  • Auseinandersetzung mit dem Thema der Biennale di Venezia 2013: Der enzyklopädische Palast
  • Auseinadersetzung mit der Geschichte und Theorie der Enzyklopädie, insbesondere der visuellen Enzyklopädien (siehe z.B. Bilder von Online-Encyklopädien wie von wikipedia, Bildwörterbücher wie z.B. des Pons-Verlages, bebilderte Fachenzyklopädien wie die Buchausgabe des Larousse Médical, Bilder-Atlas aus dem 19. Jh. wie jener von Brockhaus, Abbildungen in der Cyclopaedia von Chambers von 1728, nachträgliche Bebilderungen von Cesare Ripas Iconologia und wenn man den Begriff der visuellen Enzyklopädie etwas offener versteht, findet man auch Vorläufer z.B. in Grabbildern altägyptischer Kunst, die ihr Leben und die Welt visuell "inventarisieren" oder sogar in Bildern der ältest bekannten Höhlenmalereien, der Cueva de El Castillo in Spanien, die nebst den Handabdrücken etwas jüngere Darstellungen verschiedener Tierarten in einer reduziert enzyklopädisch sachlichen Ästhetik zeigen)
  • Auseinandersetzung mit dem Radikalen Konstruktivismus

Einleitung

Heinz von Förster: "[...] Oder man kann Fragen stellen, die nicht beantworten werden können. Wie z.B.: 'Heinz von Förster, sag einmal, wie ist das Weltall entstanden?' Ja, da kann ich eine von den 35 Theorien nennen. Und ich frage einen Sternkundigen und der sagt: 'Da war doch dieser Big Bang vor 20 Millionen Jahren.' Oder ich frage einen braven Katholiken und er sagt mir: 'Jeder weiss wie es entsanden ist; Da hat Gott die Welt erschaffen und am siebten Tag war er müde und hat eine Pause gemacht - das war der Sonntag.' Da gibt es verschiedene, sehr interessante Hypothesen, wie das Weltall entstanden ist. Das heisst; Es gibt deswegen soviele Hypethesen, weil die Fragen nicht beantwortbar ist. So kommt es nur darauf an, wie interessant ist die Geschichte, die jemand erfindet, wie das Weltall entstanden ist. " (von einem Interviewausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Das Netz" von Lutz Dammbeck, Arte 2004, siehe hier ab Minute 5:50, vom Verfasser transkribiert und leicht redigiert)

Der österreichische Biophysiker Heinz von Förster (1911-2002) vertritt im obigen Zitat die Idee des radikalen Konstruktivisums, eine philosophische bzw. erkenntnistheoretische Position, die sich seit den 1970-er Jahren aus verschiedenen Disziplinen und historischen Vorläufer gebildet hat. Förster hinterfragt dabei nicht nur die Realtität, wie sie populär verstanden wird, sondern proklamiert sogar, dass es keine direkt erfahrbare Realität gibt (siehe z.B. ebenda zum Schluss des Interviewausschnittes ab Minute 9:30, als Förster auf eine Frage provokativ mit einer Gegenfrage antwortet: "Wo ist die Realität? Wo haben Sie die?"). Jeder Mensch muss für sich aktiv eine Wirklichkeit erzeugen. Etwas anderes ist nicht erfahrbar und gibt es somit nicht. Als Methapher könnte man sagen: Im Kopf entsteht die Welt.

Das Konzept einer Enzyklopädie steht diesem radikalen Konstruktivismus sozusagen als Antithese gegenüber. Etymologisch aus dem Griechischen frei übersetzt ist eine Enzyklopädie eine wie in einem Kreis geschlossene, allgemein gültige und all umfassende Unterrichtung (ἐγκύκλιος = im Kreis herumgehend, umfassend, allgemein; παιδεία = Unterrichtung, Erziehung). Nicht nur der radikale Konstruktivismus, auch andere zeitgenössische Phänomene (z.B. Schlagwort Wissensexplosion) und postmoderne Ansätze (z.B. Feyerabends Parolen "Anything goes") müssten eigentlich das Konzept einer Enzyklopädie verunsichern. In dieser Hinsicht ist es auf der einen Seite erstaunlich, wie stark Enzyklopädien heute präsent sind. Auf der anderen Seite kann dies aber mit den heutigen Möglichkeiten und dem Erfolg der neuen Medien und dem Internet  erklärt werden.

So scheint z.B. Wikipedia schlechthin das Wissensmonopol der breiten westlichen Bevölkerung zu besitzen. Kaum ein Schüler, Studierender, Politiker oder Verkäufer wird ein Referat halten, ohne zuvor einige Stichworte via Wikipedia zumindest überflogen zu haben. Ich wage sogar zu behaupten, dass heutzutage auch kaum ein Wissensherstellter, also Wissenschaftler, Künstler, Zeitzeugen oder Geschichtenerzähler auf den Zugriff auf wikipedia verzichtet. Kurz: Enzyklopädien sind für den Menschen selbst hergestellte konstitutive Gebilde, mit denen wir uns sicher fühlen, mit denen wir uns gerne Repräsentieren und die zugleich uns repräsentieren. Wie es an der Biennale von Venedig 2013 unter der künstlerischen Leitung von Massimilliano Gioni zu erwarte ist, ist es Zeit damit etwas zu spielen.

Auftrag

Wir wollen nun die zwei gegensätzliche Positionen vereinen, jene des Glaubens an eine Enzyklopädie und jene des Radikalen Konstruktivismus, wozu sich das Medium Trickfilm in seinen Möglichkeiten der Erzeugung einer funktionierenden Wirklichkeit sowie der flüchtigen Darstellung besonders eignet.

Dazu soll jede Schülerin und jeder Schüler in einem kurzen Clip einen frei wählbaren enzyklopädischen Begriff in linearer Zeichnung spotartig einblenden lassen, diesen präsentieren und in seiner Funktion, Bedeutung oder Ästhektik in einer überzeugenden, aber neuen, unverhofften, eigenartigen Wirklichkeit erklären. Eine Erklärung, die sich jeder populären Vorstellung der Realität entsagt. Kopfstehend, irritierend, grotesk, skuril, poetisch, meinetwegen auf den ersten Blick surreal, aber interessant soll die enzyklopädische Erklärung sein. Denn wie Förster sagt: "Es kommt nur darauf an, wie interessant eine Geschichte ist!"

Kriterien

  • Formal: Die Animation läuft in der Bewegung rund und überzeugt in den Formen und der Strichführung. Sie erzeugt nach den Möglichkeiten des linearen Trickfilms eine glaubwürdige Wirklichkeit.
  • Inhaltlich: Die zu Beginn klare Präsentation des Gegenstandes nimmt in der Erklärung dramaturgisch eine überraschende Wende und erzeugt eine "kopfstehende" aber interessante Wirklichkeit.
  • Gesamteindruck

Material/ Technische Daten

  • A5 max. 80 gr. Kopierpapier mit A4-Lochung und Heftverschlüsse oder Ordnerklammern (ca. 2 cm Randabschnitt einplanen), mit weichem Bleistift und kräftigem Einsatz
  • 12 Bilder pro Sekunde, 4:3 Videoformat (HD oder Pal - Achtung, kein 16:9)
  • Video- oder Fotokamera, Computer mit Stopmotionprogramm